Das Jahr 2020 hat nicht so begonnen wie sonst. Der geplante Weihnachtsurlaub in unserem künstlerischen Lieblingsdorf in Valloria, Ligurien, Norditalien musste ausfallen. Erst waren es die Streiks in Frankreich, dann die Unwetter in der Provence und an der Rosenriviera.
Warum Frankreich? Wir fliegen aus ökologischen Gründen nicht mehr, nutzen nach Möglichkeit den Zug. Und der Weg zum „Türendorf“ führt über Paris und endet in Nizza, ab da sollte uns der Weg per Leihwagen über die Grenze führen. Also sind wir wohl oder übel zu Hause geblieben, haben die Zeit neu programmiert und tägliche Spaziergänge und kleinere Tagesausflüge über die Grenze in die Nahe gelegenen Niederlande unternommen.
Wir planten unseren Besuch in Valloria jetzt für Ostern. Planen heißt immer: Fahrkarten, Leihwagen und Ferienwohnung buchen, natürlich verbunden mit entsprechenden An- und Komplettzahlungen. Wir planten natürlich noch weiter, für den Sommer, für den Herbst, zu unseren Geburtstagen.
Zurück nach Bockum-Hövel: Wir erwanderten uns Meter um Meter unserer Umgebung, zogen immer weitere Krei-se, durch Felder, vorbei an Wiesen, durch Siedlungen, Parks, an Gewässern vorbei bis zur Kunst und weiteren Sehenswürdigkeiten. Ein erster Höhepunkt im Frühling war beispielsweise die „Japanische Kirsche“ auf dem Wemhof und die sensationelle „Anti Corona Steinschlange“ engagierter Bürgerinnen und Bürger mit Guinessbuchrekordanspruch auf der Horster Straße.
Beteiligt war stets ein Fotoapparat, mit dem ich Eindrücke sammelte. Ich nutzte die Kamera quasi als Tagebuch, nicht nur zur Dokumentation, sondern auch als Erinnerung, um aus dem einen oder anderen Bildpunkt etwas entstehen zu lassen.
Und dann kam der März über uns. Wir waren tatsächlich auf dem Weg nach Valloria. In der Zeit schauten wir nicht ganz so viel die aktuellen Nachrichtensendungen. Das hätten wir wohl besser machen sollen. Vielleicht wären wir dann erst gar nicht losgefahren. Der Urlaub funktionierte wieder nicht. Im Ferienhaus streikte die Gastherme. Die Ursache war ein harmloses Spinnennetz, das den Zündmechanismus blockierte. Das erfuhren wir erst, nach dem wir längst wieder zu Hause waren. Wir disponierten um und zogen in ein Hotel in Menton, einem wunderschönen Ort als Eingangstor zur Provence. Wir wunderten uns auch hier, dass kaum noch gesellschaftliches Leben stattfand, dass das große und traditionelle Zitronenfest, genau wie in Nizza, abgesagt wurde, verwaiste Bühnen säumten noch die leeren Straßen, die Umzugswagen, wunderschön gestaltet, standen eingezäunt und warteten – auf was eigentlich?
Erst wieder zu Hause angekommen, realisierten wir so allmählich, dass etwas passiert sein musste, was unser Land, die Welt in den letzten Jahrzehnten so noch nicht kannte. Wir lernten neue Begriffe wie Corona, Pandemie, Lock down und mehr. Mit Corona änderten sich viele der gewohnten Tagesabläufe. Meine Frau Christiane beispielsweise erlebte das erste Mal in ihrem Leben Wechselschicht. Wir bekamen mehr gemeinsame Zeit.
Da wir ziemlich stark an der künstlerisch, kulturellen Entwicklung des Martin-Luther-Viertels im Herzen der Stadt Hamm beteiligt waren und sind, passierte hier genau das Gleiche. Der werktäglich geöffnete Kunst- und Kulturtreff „La Maison“ erlebte wie aus dem Nichts einen fast völligen Stillstand. Alle geplanten Aktivitäten und Veranstaltungen mussten suspendiert und getroffene Vereinbarungen zurück genommen werden. Vieles war urplötzlich Neuland.
Die Medien überschlugen sich in dieser Zeit geradezu mit Horrorvisionen. Das ging hin bis zur möglichen Selektion kritischer Gruppen, wer wird behandelt, wer wird zum Sterben aussortiert. Manche unangenehmen Zeitgenossen wollten uns, die „Risikogruppe“ sogar wegsperren. Ich erlebte richtige Anfeindungen. Was war plötzlich mit der viel gepriesenen Solidargemeinschaft los? Klopapier und Nudeln gab es in dieser Zeit wochenlang nicht. Es bedarf schon einer ziemlichen inneren Stabilität, das Ganze zu verstehen, zu verarbeiten und mit diesen neuen Lebensherausforderungen positiv, optimistisch umzugehen.
Wir haben uns weder psychisch noch physisch unterkriegen lassen, im Gegenteil. Was natürlich nervt, ist das Maskentragen und mehr. Aber was sein muss, das muss eben auch mal sein?!
Wir genossen das Leben, realisierten Dinge, die wir schon immer vorhatten, probierten Neues aus. Wir hatten viel mehr Zeit und doch kaum Zeit. Wir erkundeten weiter UNSER Bockum-Hövel, in dem wir seit über dreißig Jahren in einem „Arme Leute Häuschen“ im Höveler Dorf lebten. Christiane ist hier von Geburt an zu Hause. Ich sammelte dabei unglaublich viele fotografische Impressionen, hatte natürlich – noch – keinen Plan, was ich damit später machen wollte, warum auch.
Und dann stellte Christiane die Frage aller Fragen: „Willst Du dass nicht mal aufschreiben, diese Geschichten am Bockum-Höveler Wegesrand?“ Ich war so leichtsinnig und habe tatsächlich ja gesagt, nicht ahnen könnend, was ich mir damit an positiver Arbeit organisiere. Ich war von dieser Idee angetan und machte mir erste Notizen, leider unstrukturiert und verteilt auf unzählige Ideenbücher. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Fotos. Es fehlt die Ordnung, die Systematik. Ich muss immer wieder suchen, um etwas zu finden. Das kostet Zeit und Nerven.
Um möglichst rasch möglichst viele Informationen zu und über Bockum-Hövel zu erhalten, lud ich die Lokalpresse zu einem Termin ein. Es war schon ein erhabenes Gefühl, auf dem Parkplatz zwischen dem Pastorat und „Reumkes FachWerk“ zu stehen und an eine unglaubliche Geschichte bis zum Beginn des Mittelalters zu erinnern, denn Pastorat, St. Pankratiuskirche, die Ringbebauung des Dorfes, das Rathaus mit Gefängnis, die Schule, der Ehrenfriedhof, ein Weltkriegsbunker – alles nur wenige Meter vom Ort der Pressebegegnung entfernt. Sogar die Burg Hövel soll hier vor knapp tausend Jahren gestanden haben. Ich wollte mich dieser Geschichte widmen, diesem Mikrokosmos. Ich wollte herausfinden, was sich da alles unter den immer wieder entstehenden Dellen des Parkplat-zes und in direkter Dorfnachbarschaftet befand und noch befindet.

Da mein Schwiegervater Josef Vieth Schneidermeister in Hövel war, interessierte mich genauso der Weg der vielen Handwerksbetriebe im Stadtbezirk. Das erzählte ich dem Redakteur und bat unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger um inhaltliche Hilfe und Unterstützung. Direkte Reaktionen auf diesen Appell gab es nicht oder doch. Josef Lensing, seines Zeichens Ortsheimatpfleger, dementierte vehement den Standort von „Burg Hövel“. Sie gab es tatsächlich, aber knapp hundert Meter von uns entfernt am einstigen Vikariat und wir kamen Besuch von Helmut Kurznik, der sein Interesse an einer Mitarbeit bekundete. Der Kontakt zu Helmut ist einer der Verrücktesten, den ich bisher hatte. Er gipfelte fast wöchentlich in einem herrlich leckeren Käsekuchen, lokalen Infos und aktivem Handeln. Davon später mehr.
Ich begann zu recherchieren, fing an, Menschen, Wissende, Akteure zu besuchen, von denen ich mir Informationen für mein Büchlein versprach. Ich brauche nicht extra zu erwähnen, dass Kontakte in Pandemiezeiten nicht einfach zu machen sind. Und die, die unglaublich viel Wissen in ihrem Gedächtnis mit sich tragen, zählen meistens zur Risikogruppe der Älteren, die manchmal auch noch Vorerkrankungen haben. Trotzdem hat fast alles einschließlich etlicher Betriebsbesichtigungen gut funktioniert.
Mit den ersten Besuchen änderte sich etwas. Ich merkte, wir müssen uns beeilen, damit dieser Geschichtsberg nicht eines Tages verschwindet. Aber ich schaffte pro Tag wirklich nur ein bis zwei Gespräche. Meine Besuche erfolgten alle zu Fuß. Mittlerweile kannte ich fast jede Straßenlaterne „beim Vornamen“. Die zweite Erkenntnis war und ist: jeder Besuchte kennt unglaublich viele Menschen, die auch etwas wissen. Wie ist das zu schaffen, überall vorbei zu gehen, Kaffee und Kuchen zu genießen, zuzuhören, nachzufragen, mitzuschreiben, einzuscannen und mehr?
Die dritte Überraschung sind die vielen kleinen und großen „Geheimnisse“, z.B. in Form persönlicher Museen, Erinnerungsstücke, Aktenordnern, Aufbewahrungskisten und mehr. Ich kann zwar etwas die Sütterlinschrift lesen, aber oft reichte das nicht. Allein die Geschichten der in Bockum-Hövel ansässigen Handwerksbetriebe zu er-forschen, wird unglaublich viel Zeit brauchen. Denn diese Firmenchroniken reichen oft in das 19. Jahrhundert zurück.
Und während ich da ziemlich spontan vor mich hin recherchierte, ich bin gelernter Lebensmittelkaufmann und kein Schriftsteller, kam Christiane auf die Idee, ihrem Vater ein „Schneidermeister-Kunstwerk“ zu widmen, auf der einstigen Wand des Bockum-Höveler Rathauses, die mittlerweile integraler Bestandteil unseres Schuppens ist. Geschichte trifft hier Geschichte. Während Christiane an ihren Vater Josef mit Pinsel und Farben erinnerte, entstand ein kleiner Besuchsort. Auch in Pandemiezeiten sprachen Menschen miteinander. Ein neuer Kommunikationsort wurde geboren, der heute täglicher Jugendtreff ist

